ACHTSAMKEIT & NATUR

Lebendiger Stein

Kannst du dir vorstellen, einen profanen Stein zu betrachten und ihn in 15 Minuten mit 50 Attributen zu beschreiben? Ich war mir überhaupt nicht sicher, ob ich einen schnöden Stein mit so viel Beschreibung versehen könnte. Doch ich wollte es wissen und habe mich dieser Übung zur Naturverbindung hingegeben. Es heißt, je langweiliger der Stein, um so größer die Hausforderung. Ich wählte einen Kieselstein, etwas größer als eine Walnuss. Den Stein und ein Blatt Papier habe ich vor mir hingelegt und dann noch den Handytimer aus 15 Minuten gestellt. Los ging’s.

Die ersten Adjektive sprudelten hervor. Sie bezogen sich auf das Augenscheinliche; Form, Farbe und dergleichen. Dann nahm ich den Stein in die Hand. Es folgten Worte, die ich haptisch wahrnehmen konnte. Dann flossen wieder Attribute, die ich visuell erfasst habe und jetzt sehen konnte, da ich den Stein in meiner Hand mehrfach gedreht habe. So langsam wurde der Stein wärmer in meiner Hand und begann sich richtig wohlig anzufühlen. Das gab mir den Impuls den Stein ans Ohr zu halten. Würde ich etwas hören? Ich vernahm ein Ticken. Hä? Kurz gestutzt und vermutet, dass es wohl mein Puls war, den ich auf einmal erspürte. Dadurch, dass ich meinen Gehörgang mit dem Stein verschlossen habe, konnte ich ihn erlauschen. Dann rieb ich mit dem Finger über die Oberfläche. Das erzeugte auf jeden Fall ein Geräusch, ähnlich einem Meeresrauschen. Wow.

Jetzt wurde ich immer neugieriger und hielt mir den Stein unter die Nase. Überraschender Geruch, aber kein lieblicher Duft. Es roch modrig, erdig bis hin zu einem Betonähnlichen Geruch. Als ehemalige Bauleiterin katapultierte es mich sofort auf die Baustelle. Ich blieb dran am Geruch und fand noch ein paar Adjektive. Dann Pause. Ach ja, ich könnte den Stein auch noch schmecken. Das gustatorische Ergebnis war eher ernüchternd. Hmm, hatte ich da etwa eine Erwartung? Nach was sollte ein Stein denn schmecken? Keine Ahnung; vielleicht nach Meer oder Erde. Als ich den Stein unter die Zunge gelegt habe verstärkte sich der Duft. Von diesem Phänomen habe ich schon einmal gehört. Sommelièren (ja, die Mehrzahl endet auf n) nutzen diesen Effekt angeblich bei der Weinverkostung.

Die Anzahl meiner Attribute schien der Zahl 50 noch fern zu sein. Also untersuchte ich die Oberfläche nochmals. Siehe da, es fanden sich noch neue Erkenntnisse. Was noch? Ich umhüllte den Stein mit beiden Händen und schloss meine Augen. Was mag wohl der Stein zu mir sagen, könnte er sprechen? Ich verließ mich auf den 6. Sinn und tataa, der Stein hatte so einiges mitzuteilen. Der Stein erzählte von seiner Geschichte und seiner weiten Reise. Ja, man benötigt wohl etwas Spiritualität, um dies nicht als Unmöglichkeit abtun. Im Schamanismus geht man davon aus, dass Steine beseelt sind, dass etwas Wesenhaftes in ihnen wohnt.

Ich wollte dann noch etwas mit dem Stein spielen, allerdings schreckte ich vom Klingeln meines Handys hoch. Oh, die Zeit ist um! Ich hatte mich so im Stein verloren, dass mir auch das Zeitgefühl entschwunden ist. Ein typischer Effekt der Achtsamkeit. Man ist derart im Moment, dass der Rest der Welt keine Rolle mehr spielt. Alle Sorgen und Nöte sind für den Augenblick verschwunden. Körper und Geist entspannen. Der Stress entweicht. Wie schön!

So, jetzt bleibt die Frage, habe ich die Challenge gemeistert? Mit wie vielen Aspekten konnte ich den Stein beschreiben? Es sind in der Tat über 50 Punkte geworden. Unglaublich, was für eine Erfahrung! Auf den ersten Blick liegt da nur ein profaner Stein, doch er kann so viel mehr sein. Ich habe so etwas wie eine Beziehung zu dem Stein aufgebaut; war von ihm fasziniert. Das hat ihn in weniger als einer Viertelstunde irgendwie lebendig gemacht.

Wenn du magst, probiere es selbst einmal aus und gönne dir eine ungeahnte Naturerfahrung – die zudem noch gesundheitsfördernd ist.

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